Vom Mut, in der Fremde neu anzufangen

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Maria und Carmelo Allia haben ihre Heimat aufgegeben um ein Leben in der Schweiz aufzubauen. Der steinige Weg hat sich gelohnt.

Relativ unbeschadet hatte die Schweiz den Zweiten Weltkrieg überstanden. Nicht so ihre Nachbarländer. Während sich im Europa der Nachkriegsjahre die wirtschaftliche Lage überwiegend trostlos präsentiert, läuft die Produktion in der Eidgenossenschaft wie geschmiert. Mangel herrschte lediglich an Arbeitskräften. Doch mit Migrationsabkommen gelang es dem Bund, Abhilfe zu schaffen. So kamen allen voran Italiener und Spanier während der 50er- und 60er-Jahre in grosser Zahl über die Grenze und schufteten als Gastarbeiter, sogenannte Saisonniers. Einer davon war Carmelo Allia.

Wie im falschen Film

Der damals 18-Jährige verliess 1963 erstmals das sizilianische Randazzo mit dem Zug in Richtung Schweiz. Ein Freund hatte ihm die Arbeit und den sicheren Verdienst schmackhaft gemacht, der Vater das Geld für den Pass vorgestreckt. Doch schon an der Grenze in Chiasso folgte die erste Ernüchterung: Alle Italiener mussten für einen ärztlichen Untersuch aussteigen. Nur Gesunde durften rein. Die Schweiz war noch weit entfernt von einer Willkommenskultur. Die Einreise gestaltete sich viel eher als Erniedrigung. «Ich hätte am liebsten rechtsum kehrt gemacht und wollte sofort wieder auf den Weg nach Hause», erinnert sich Carmelo Allia ungern. Doch für eine Rückfahrkarte fehlten 20 Franken.

Ein sicherer Hafen

Nach diesem denkbar schlechten Start schickte sich der Maurer im Appenzeller Vorderland an, das Beste aus der Situation zu machen. Das geregelte Einkommen liess ihn durchhalten und Hoffnung auf ein besseres Leben finden: «In Italien hatte es genug Arbeit, aber ob ein Zahltag kommt, war Glückssache.» Und er sagt weiter: «Ich machte grosse Augen, wie verlässlich in der Schweiz der Lohn ausbezahlt wird. Damals noch alle zwei Wochen in einem Couvert.» Darum blieb er – auch als genug für ein Retourbillett beisammen war. Geschenkt wurde ihm das Geld aber beileibe nicht: Sechs-Tage-Wochen à zehn Stunden waren die Norm.

Getrennt von der Familie

Erst nach anderthalb Jahren ging er wieder heim. Er heiratete «seine» Maria und dem Paar wurde eine Tochter geschenkt. Noch zweimal, 1964 und 1965, kehrte Carmelo alleine in die Schweiz zurück um das täglich Brot für sich und seine Familie zu verdienen. 1966 folgte ihm auch Maria, die als Schneiderin eine Anstellung gefunden hatte. Ein Entscheid, der nicht leicht gefallen ist, wie die 75-Jährige erzählt: «Es war sehr schwer, unser Mädchen zurückzulassen.» Denn Familiennachzug war Gastarbeitern nicht erlaubt. Obwohl sie die Tochter bei ihrer Oma und der Mutter von Carmelo gut betreut wusste, brannte doch Marias Herz. Erst als Jugendliche durften sie ihr Kind in die Schweiz nachholen, wo ihm zwei Geschwister geboren worden waren.

Blick in eine andere Zeit

Was sich heute ausnimmt wie eine Erzählung aus einer längst vergangenen Zeit an einem weit entfernten Ort, war in den 60er- und 70er-Jahren hierzulande für Einwanderer Realität. Dem damaligen Alltag und dem Berufsleben von einst hat Petra Bach eine Seminararbeit gewidmet. Unter der vielsagenden Überschrift «Schweizer im Kopf – italiano nel cuore» (zu Deutsch: «Italiener im Herzen») hat sie die Erlebnisse von Maria und Carmelo Allia verarbeitet. Es legt Zeugnis ab, wie viele bittere Erfahrungen Gastarbeiter machen mussten, obwohl sie doch massgeblich dazu beitrugen, den wirtschaftlichen Aufschwung zu befeuern.

Nah bei den Liebsten bleiben

Trotz politischen Hürden und Gesetzen, die das Familienleben erschwert hatten, sagen die beiden doch, dass sie immer auf viel Wohlwollen vonseiten der Gemeinde und besonders von Carmelos Arbeitgeber zählen durften. Das Schönste überhaupt sei die Pensionierung mit 60 Jahren gewesen, blickt der heute 79-Jährige mit einem Lächeln zurück. Nach vierzig Jahren auf dem Bau hätten seine fünf schönsten Jahre begonnen: «Ich war noch jung und rüstig genug, das Leben voll zu geniessen.» Nach Italien zurückzukehren war schon lange keine Option mehr. «Alle Verwandten sind gestorben und nach über 60 Jahren in der Schweiz haben wir hier mehr Freunde als in der alten Heimat», sagen beide und betonen das Wichtigste: «Zudem sind wir so auch unseren Kindern und Grosskindern nah.» Zusammengefasst bleibt für Allias die Erkenntnis: «Italien ist schön für Ferien, aber nicht zum Leben.» Sie seien heute glücklicher denn je, freuen sie sich. Einzig den Friedhof, auf dem die Eltern liegen, vermissen Maria und Carmelo. Zu weit ist der Weg, um ihn jedes Jahr zu besuchen.

Matthias Bruelisauer

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