Gewalt im Alter ist ein Tabuthema

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Jahr für Jahr erfahren in der Schweiz mehr als 300’000 über 60-Jährige Gewalt. Und kaum jemand spricht darüber.

Der Bundesrat schreibt in einem Bericht, dass Gewalt im Alter zunehmend «als gesellschaftliches Problem und Verletzung der Grundrechte anerkannt» werde. Dennoch bleibt das Phänomen weitgehend im Verborgenen und ein Tabuthema. Nur selten wenden sich betroffene Seniorinnen und Senioren an eine Hilfsorganisation. Wie eine vom Institut et Haute Ecole de la Santé La Source durchgeführte Studie zeigt, suchen sie sich vor allem aus Scham und Angst vor Konsequenzen keine Hilfe. Die Betroffenen sind oft wegen gesundheitlichen Problemen auf Unterstützung angewiesen. Sie fürchten, die Kontrolle über ihre Situation zu verlieren, in ein Heim gehen zu müssen oder die Beziehung zu nahestehenden Personen zu gefährden.

Gewalt hat viele Gesichter

Gewalt umfasst nicht nur körperliche Misshandlung, sondern auch Vernachlässigung, Herabsetzung, Nötigung und finanzielle Ausbeutung. Bemerkenswert ist, dass unter körperlicher Misshandlung neben Tätlichkeiten auch angedrohte Handlungen verstanden werden. Der Bogen wird folglich von physischen zu seelischen Verletzungen gespannt. Jemandem unnötig Schmerzen zufügen, etwa durch grob anziehen oder schlagen, gehört ebenso in diesen Bereich, wie wenn Lebensmittel und Medikamente ausser Reichweite gelegt oder verweigert werden. Fatal kann sein, wenn Letztere überdosiert oder gar nicht abgegeben werden.

Als psychische, beziehungsweise emotionale Misshandlungen gelten jegliche Angriffe auf das Selbstbewusstsein und die Würde einer anderen Person. Worte sind Messer, sie können starke seelische Schmerzen zufügen. Jemandem mit dem Heim zu drohen oder ihn wie ein kleines Kind zu behandeln, ist also genauso eine Art von Gewalt wie sexueller Missbrauch. Darunter versteht man sowohl sexuelle Kontakte oder Handlungen ohne das Einverständnis als auch das ungewünschte Sprechen darüber. Ausserdem zählen unangenehme Berührungen, zum Beispiel beim Waschen, zu diesem Themenfeld.

Gewalt wird subjektiv erlebt

Auch Vernachlässigung kann eine Form der Gewalt sein. Sprich: Die für die Betreuung und Versorgung verantwortliche Person erfüllt ihre Aufgaben ungenügend. Gewalt kann aber im wahrsten Sinne des Wortes auch teuer werden, dann wird von finanziellem oder materiellem Missbrauch gesprochen. So etwa, wenn Geld unterschlagen wird oder man das Opfer einen Vertrag zu seinem Nachteil unterschreiben lässt.

Was Gewalt ist, kann nicht abschliessend beschrieben werden. Zu gross ist das Spektrum, zu individuell das Erleben. Der Bundesrat kommt daher zum Schluss, «dass die Definitionen von Gewalt und Missbrauch auch subjektiv sind und sich auf die moralischen und kulturellen Wertvorstellungen beziehen, die sich weiterentwickeln: Was als akzeptabel oder inakzeptabel wahrgenommen wird, kann sich mit der Zeit und je nach Kulturkreis ändern.»

Risikofaktoren

Überdurchschnittlich gefährdet, ein Opfer von Gewalt zu werden, sind Frauen über 74 Jahren und wer krank, abhängig von Fürsorge oder sozial schwach ist. Risikofaktoren, um selber Gewalt auszuüben, sind Stress, Überlastung bei der Pflege oder ein Suchtverhalten, beispielsweise übermässiger Alkoholkonsum. Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu denken, dass Pflegebedürftige immer die Leidtragenden sind – sie können gleichermassen Gewalt anwenden.

Auch in der Form der Beziehung von Opfer und Täter kann ein erhöhtes Risiko lauern. So besteht häufig eine Verwandtschaft oder noch schlimmer, das Opfer lebt allein mit der gewaltausübenden Person. Familiäre Bindungen sowie das Gefühl der Loyalität sind besonders hinderlich, um über Missstände zu reden.

Erkennungsmerkmale

Wie kann man bei älteren Menschen erkennen, dass sie Gewalt ausgesetzt sind? Ganz zu schweigen von den körperlichen Anzeichen wie Schwellungen, Kratzern oder blauen Flecken sind auch Mangelernährung oder schmutzige Kleidung ein Indiz auf das Erleben einer Form von Gewalt. Zu beachten ist ausserdem das Benehmen. Opfer verhalten sich oft ungewohnt ängstlich, schreckhaft, scheu, aggressiv, manchmal teilnahmslos.

Ein Warnzeichen kann überdies sein, wenn sich Begleitpersonen auffällig benehmen. Hat jene ein angespanntes oder überkontrollierendes Verhalten gegenüber der pflegebedürftigen Person, kann das genauso auf versteckte Gewalt hindeuten, wie widersprüchliche Erklärungen auf Fragen nach Verletzungen. Skepsis ist zudem angebracht, wenn medizinische Behandlungen in unterschiedlichen Einrichtungen stattfinden.

Als Schutzfaktoren werden vom Bundesrat die soziale Integration und gute Wohnbedingungen genannt. Vor allem eine bezahlbare Betreuung im eigenen Zuhause kann vieles verhindern.

Wer bietet Hilfe?

Von Gewalt können alle betroffen sein. Mit der Ombudsstelle Alter und Behinderung der Kantone St.Gallen, Appenzell Ausser- und Innerrhoden steht Personen, die in Alters- und Pflegeheimen oder durch Spitex-Organisationen beraten, betreut oder gepflegt werden, im Konfliktfall eine unabhängige, externe Anlaufstelle zur Verfügung. Eine Beratung durch die Ombudsfrau Susanne Vincenz-Stauffacher ist kostenlos. Das Büro liegt an der Schützengasse 6 in St.Gallen (Telefon 071 220 33 73, , www.osab.ch).

Hilfe bieten weiter das Kompetenzzentrum Alter ohne Gewalt (Telefon 0848 00 13 13, , www.alterohnegewalt.ch) oder die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) im Gutenberg Zentrum an der Kasernenstrasse 4 in Herisau (Telefon 071 353 66 60, ).

Ergänzend richtet sich das Angebot der Opferhilfe SG-AR-AI an Menschen, die von Gewalt betroffen sind. Die Opferhilfe befindet sich an der Teufenerstrasse 11 in St.Gallen (Telefon 071 227 11 00, , www.ohsg.ch). Auch die kantonalen Polizeikorps, die Spitex, Alzheimer Schweiz, Curaviva und die Pro Senectute können mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Matthias Bruelisauer

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