Demenz zählt zu den häufigsten Erkrankungen im Alter. Demenz kann alle treffen. Diese Diagnose verunsichert die erkrankten Personen genauso wie die Angehörigen, Freunde und Bekannten und löst viele Fragen aus. Alzheimer St.Gallen/beider Appenzell und Pro Senectute AI, AR und SG laden zur Lesung «Der alte König in seinem Exil» ein.
Arno Geiger, vielfach ausgezeichneter Autor, beschreibt in seinem Buch «Der alte König in seinem Exil» die ergreifende Geschichte seines Vaters August Geiger, der an Alzheimer erkrankt ist. Mit grosser Empathie und literarischer Präzision setzt sich Geiger mit den Herausforderungen und den leisen Momenten des Glücks auseinander, die diese Krankheit mit sich bringt. Dabei gelingt es ihm, das Vergessen als universelles menschliches Thema zu beleuchten – und das Verhältnis zu seinem Vater neu zu gestalten.
Der König im Exil:
Ein Leben in Fragmenten
Geigers Vater, ein Mann aus einer anderen Zeit, war ein stiller und zurückhaltender Mensch. Er hatte nie den Zugang zu seinen Emotionen gefunden, weder zu Lebzeiten seiner Frau noch im Umgang mit seinen Kindern. Die Diagnose Alzheimer verändert jedoch alles. Plötzlich öffnet sich August Geiger, wenn auch nicht bewusst, und zeigt in seinem Zustand der Verwirrung eine neue, sanftere Seite. Das titelgebende «Exil» steht für die Entfremdung des Vaters von seiner eigenen Biografie. Die Krankheit reisst ihn aus der vertrauten Welt und lässt ihn in einem Labyrinth der Vergesslichkeit zurück. Doch inmitten dieser Orientierungslosigkeit entdeckt Arno Geiger Momente der Klarheit und Schönheit: «Ich habe gelernt, dass man einem Menschen auch dann noch nahe sein kann, wenn er sich von der Welt entfernt.» Diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird zu einer Art Leitmotiv des Umgangs mit Alzheimer.
Das Leben mit Alzheimer:
Liebe und Geduld
Geiger beschreibt eindringlich, wie die Krankheit das Verhältnis zu seinem Vater verändert. Die Herausforderungen sind enorm – ein Mann, der früher selbstständig war, benötigt plötzlich Unterstützung in den einfachsten Alltagssituationen. Doch anstatt zu verzweifeln, sieht der Autor in der Situation eine Chance zur Annäherung: «Je weniger er uns verstand, desto mehr bemühten wir uns, ihn zu verstehen.»
Er schildert humorvolle und tragische Episoden gleichermassen: Da ist die Szene, in der August Geiger seine Schuhe mit Taschentüchern poliert, oder der Moment, als er den Autor fragt, ob sie Brüder seien. Solche Situationen offenbaren die Absurdität der Krankheit, aber auch, wie wichtig Geduld, Gelassenheit und Liebe sind.
Ein universelles Thema
Das Buch ist jedoch mehr als ein persönlicher Erfahrungsbericht. Geiger gelingt es, die individuelle Geschichte seines Vaters mit allgemeinen Fragen zu verbinden: Was bedeutet es, sich selbst zu verlieren? Wie definieren wir Identität, wenn das Gedächtnis schwindet? Und wie gehen Angehörige mit dieser Zerbrechlichkeit um?
Mit leisen, aber kraftvollen Worten zeigt er, dass auch im Chaos des Vergessens ein tiefes Menschsein verborgen liegt. «Mein Vater hat mich gelehrt, dass man sich von seinen Ansprüchen verabschieden muss, wenn man jemanden liebt, der seine Ansprüche nicht mehr formulieren kann.»
Hoffnung im Vergessen
Trotz der Schwere des Themas ist das Buch kein Abgesang auf ein verlorenes Leben. Im Gegenteil: Geiger betont immer wieder, dass auch Menschen mit Alzheimer Würde und Lebensfreude besitzen können. Der Autor schreibt: «Mein Vater hat die Fähigkeit, aus dem Moment heraus zu leben – etwas, das uns oft so schwerfällt.» Diese Haltung ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Respekt gegenüber Kranken, aber auch ein Denkanstoss für die Leser, das Leben bewusster zu geniessen.
Fazit: Eine berührende
Liebeserklärung
Mit «Der alte König in seinem Exil» hat Arno Geiger ein Werk geschaffen, das weit über eine Krankheitsgeschichte hinausgeht. Es ist ein bewegendes Porträt einer Vater-Sohn-Beziehung, eine kluge Auseinandersetzung mit dem Altern und ein Zeugnis der heilenden Kraft von Verständnis und Zuwendung. Der Autor zeigt, dass es im Vergessen auch eine Art von Freiheit gibt – eine Freiheit, die sowohl Schmerz als auch Schönheit birgt.
Geigers Buch ist ein literarisches Denkmal für alle, die sich mit dem Verlust von Erinnerungen auseinandersetzen müssen – und eine stille Aufforderung, die Gegenwart zu umarmen.