Die Sehnsucht nach Geborgenheit

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Sie ist der Elefant im Raum. Fast alle kennen sie. Viele werden von ihr beinahe erdrückt. Doch man schweigt. Thomas Eisenhut wagt es, sie beim Namen zu nennen: Die Einsamkeit.

Thomas Eisenhut sitzt im Café. Eine Tasse dampft, sein Blick folgt dem Geschehen aufmerksam. Er ist der ruhige Beobachter am Rand des Raumes. Genau so, etwas abseits, führt und führte er sein ganzes Leben – was er heute bereut, wie er im Gespräch offen zugibt. Denn er fühlt sich einsam, schon seit Jahren. Eigentlich schon immer.

Im November 2022 ist der kaufmännische Angestellte, der ein ganzes Berufsleben für Krankenkassen gearbeitet hat, pensioniert geworden, was die Situation nicht verbessert hat. «Die letzten zehn Jahre im Beruf waren meine schönste Zeit», blickt der Jungrentner zurück: «Ich pendelte mit dem Zug vom Appenzeller Mittelland nach Zürich. Im Büro waren wir ein super Team und auf dem Nachhauseweg war ich oft mit einem Kollegen im gleichen Abteil. Wir konnten herrlich über Gott und die Welt diskutieren.»

Geselligkeit geniessen

Da fragt man sich: Was hätte vor und nach diesen «schönen zehn Jahren» besser laufen können? Um darauf eine Antwort zu finden, beleuchtet Thomas Eisenhut in Streiflichtern sein Leben: Durch Komplikationen bei der Geburt mit einem teilweise gelähmten rechten Arm gezeichnet, verbringt er seine ersten dreissig Jahre im Elternhaus. Die Situation ist schwierig. Der Vater belastet mit seiner Alkoholsucht die Seele des Jungen. Halt gibt die Mutter, sie ist der Fels in der Brandung. Nach dem Auszug sucht und findet er Anschluss im Männerchor und bei Orientierungsläufen. «Ich musste mich aber immer überwinden, um unter Leute zu gehen», sagt Thomas Eisenhut. Dennoch unternahm er gerne und regelmässig Wanderferien und Gruppenreisen. «Während dem Laufen konnte ich mich öffnen, die Geselligkeit geniessen», erzählt er und fährt fort: «Abends hatte ich dann hingegen gerne Zeit für mich.»

Die Zweisamkeit fehlt

Sich zurückziehen bedeutet jedoch für Thomas Eisenhut nicht, dass kein Platz für Zweisamkeit ist. Dafür wäre er gerne bereit. Doch es hat sich irgendwie nie ergeben. Zeitlebens ist er Single geblieben. Und das, obwohl er sich nach der Beständigkeit einer vertrauensvollen Beziehung, dem engeren Kontakt zu einer Frau seit jeher sehnt. Den Schritt in eine Partnerschaft habe er nie gewagt, was ihn traurig mache. So traurig, dass es ihm in seinen Tiefs häufig schwer fällt, die Kontrolle im Leben zu behalten. Vieles entgleitet, bleibt liegen. Das Sich-Aufraffen wird zu einem harten Stück Arbeit. «Ich fühle mich wie dauernd auf der Kippe zu einer Depression», gesteht er. Sein soziales Netz war nie besonders tragfähig, nun ist es noch grobmaschiger geworden. Den engsten Kontakt pflegt er zum Bruder, doch der lebt mit seiner Familie im Aargau.

Es bleibt oberflächlich

Kontakte zu knüpfen, falle ihm nicht schwer, sagt Thomas Eisenhut über sich selber. Doch das Vertiefen einer Bekanntschaft will nicht gelingen. «Man fühlt sich allein, verlassen. Das tut weh. Man sieht die anderen, die Beziehungen oder Familie haben, die Hand in Hand gehen, sich küssen.» Der Schmerz lähmt. Erschwerend kommt hinzu, dass Thomas Eisenhut keine Hobbies pflegt. Allerdings liebäugelt er mit dem Gedanken, das Velofahren wieder aufzunehmen. Denn er freut sich an den Schönheiten der Natur. Die grösste Hürde ist aber immer wieder der erste Schritt, der Gang vor die Haustür. «Man sagt sich: Ach, was soll ich allein etwas unternehmen, ich bleib zuhause.» Wo er dann doch nur wieder planlos die Zeit totschlägt. Das Selbstwertgefühl leidet. Der Schritt nach draussen folgt erst, wenn der Kummer übergross wird.

Nähe nicht um jeden Preis

Könnte eine Wohngemeinschaft die Einsamkeit lindern? «Das wäre dann doch des Guten etwas zu viel», befürchtet Thomas Eisenhut. Er hat Bedenken, grosse Stücke seiner Freiheiten aufgeben und zu viel Nähe zu x-beliebigen Leuten zulassen zu müssen.

Thomas Eisenhut hält sich in der Rückblende auf sein bisheriges Leben den Spiegel vor, wenn er schonungslos reflektiert: «Ich hätte sowohl offener als auch zugänglicher sein sollen, mutiger die Initiative ergreifen sollen.» Er findet die treffenden Worte, wenn er sagt: «Man bereut nur, was man nicht getan hat.»

Aufeinander zugehen

Eine leise Kritik an der Gesellschaft schwingt dennoch mit. Die sozialen Normen und anerzogenen Verhaltensweisen in unseren Breiten sind nicht gerade förderlich, um Einsame aufzufangen. «Wir sind zu zurückhaltend, distanziert und introvertiert», bemerkt Eisenhut: «Wenn es gelänge, aus dem ‹Gartenhägli› auszubrechen, wäre viel gewonnen», sinniert er: «Etwa mit einem ungezwungenen Treffen in einem Singlecafé.» Das wäre ein Anfang.

Zumindest bleibt zu hoffen, dass Thomas Eisenhut mit seiner Offenheit andere inspiriert, die Einsamkeit aus dem Tabubereich zu holen – und zu verbannen.

Matthias Bruelisauer

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