Alltag in der Geriatrie

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Birgit Schwenk will von ihren Patienten wissen, was das Leben lebenswert macht. In einem Interview gibt die Chefärztin Einblicke in die Geriatrie.

Geriatrie bezeichnet in der Fachsprache die Altersmedizin. Wie der Name vermuten lässt, befasst sich der Themenbereich mit Erkrankungen des Menschen vom 65. Lebensjahr an – hauptsächlich in den Gebieten Innere Medizin, Orthopädie, Neurologie und Psychiatrie. Birgit Schwenk ist Chefärztin Akutgeriatrie in den Spitälern Altstätten, Grabs und Wil. Sie wohnt in Gais und engagiert sich seit 15 Jahren im Stiftungsrat der Pro Senectute Appenzell Ausserrhoden. Wenn sie keinen Kittel trägt, ist sie gerne in den Bergen unterwegs oder singt im Chor Gais. Die 56-jährige Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin stand dem Pro Senectute-Magazin Rede und Antwort, um Einblicke in ihren Berufsalltag zu geben.

In der Einleitung haben wir kurz gestreift, was sich hinter dem Begriff «Geriatrie» verbirgt. Aber beschreiben Sie doch bitte für unsere Leserschaft detaillierter, womit sich die Altersmedizin beschäftigt:

Die Akutgeriatrie setzt sich mit der Gesundheit und Krankheit im Alter auseinander und berücksichtigt dabei die körperlichen, geistigen und sozialen Faktoren. Die Altersmedizin befasst sich unter anderem mit Funktionsstörungen, wie Gang- und Standschwierigkeiten, Hirnleistungsproblemen, Lähmungen und einer verlängerten Genesungszeit nach anderen akuten Erkrankungen oder Operationen. Verschiedene Spezialistinnen und Spezialisten sorgen in der Akutgeriatrie für den Erhalt von Gesundheit, Selbständigkeit und für eine gute Lebensqualität des älteren und hochbetagten Menschen.

Wie muss man sich eine geriatrische Abteilung vorstellen?

Die Patienten in der geriatrischen Abteilung sind im Durchschnitt 83 Jahre alt und bleiben meist 14 Tage im Spital. Neben der Abklärung und Behandlung der akuten Erkrankung wird mit frührehabilitativen Massnahmen begonnen, um den Genesungsprozess optimal zu unterstützen. Ein wichtiger Aspekt ist die aktivierende Pflege und damit die Hilfe zur Selbsthilfe. Das Team aus Pflegenden, Ärzten, unterschiedlichen Therapeuten, Austrittsplanung etc. arbeitet zusammen mit den Betagten an den zu Beginn vereinbarten Zielen. Normalerweise erhalten die Patienten pro Woche zehn Therapieeinheiten. Viele Patienten können wieder nach Hause austreten, andere gehen anschliessend in eine Rehaklinik oder ins Pflegeheim.

Gibt es Besonderheiten in den von Ihnen betreuten Spitälern?

Eine Spezialität ist die Alterstraumatologie, welche wir an den Standorten in Altstätten und Grabs anbieten. Hier werden gestürzte ältere Menschen von den Altersmedizinern zusammen mit den Orthopäden oder Chirurgen gemeinsam behandelt und damit optimal betreut. Ebenfalls an beiden Standorten bieten wir eine ambulante Demenzabklärung in unserer Memory Clinic an.

Was sind Ihre grössten Herausforderungen im Alltag als Geriaterin?

Eine grosse Herausforderung ist im Einzelfall das richtige Mass an Diagnostik und Therapie zu finden, damit wir bei den betagten Menschen keine Übertherapie aber auch keine Unterbehandlung betreiben. Dazu ist es sehr wichtig zu wissen, was jedem einzelnen Patienten wichtig ist, was sein Leben lebenswert macht und welche Ziele erreicht werden sollen. Manche Patienten möchten 100 Jahre alt werden, andere hingegen warten auf den erlösenden Tod.

Welche Genesenden brauchen die intensivste oder längste Betreuung?

Patienten, die vorbestehend Gedächtnisprobleme haben oder während des Spitalaufenthaltes einen akuten Verwirrtheitszustand erleiden, brauchen oft eine längere Betreuung. Ebenso Patienten, bei denen Komplikationen auftreten, die leider im Alter häufiger vorkommen.

Welches besondere Erlebnis werden Sie nie vergessen?

Ein Patient kam zu uns auf die Geriatrie um zu sterben. Er hatte aufgehört zu essen und zu trinken, damit er nicht mehr weiterleben musste. Er lebte alleine in einem abgelegenen Bauernhaus, zuletzt nur noch in einem Raum, den er mit dem Föhn heizte. Im Spital erlebte er wieder Ansprache, freundliche Menschen, die sich um ihn kümmerten und so begann er wieder zu essen und zu trinken. Er wurde letztlich in ein Pflegeheim verlegt, wo er sich sehr wohl fühlte.

Geriatrie und Sterben scheinen untrennbar miteinander verknüpft. Wie gehen Sie mit dem Tod um?

Der Tod hat am Ende eines langen Lebens oftmals etwas Erlösendes. Das ist tröstlich und erleichtert den Umgang mit dem Thema Sterben. Viele alte Menschen sterben völlig friedlich. Sie schauen meist auf ein erfülltes und gefülltes Leben zurück und haben dieses oft bereits abgeschlossen. Anders sieht das bei jungen Müttern mit einer Krebsdiagnose aus, die gerne miterlebt hätten, wie ihre Kinder aufwachsen, heiraten und selbst Kinder bekommen. Dort ist das Sterben häufig ein Kampf und geht uns allen sehr nahe.

Was sind Ihre grössten Freuden im Umgang mit betagten Menschen?

Freude bereiten mir immer wieder rüstige 90- oder 100-Jährige, die noch alleine oder manchmal sogar mit dem Ehepartner zu Hause leben und dankbar und zufrieden auf das Vergangene blicken. Von diesen Menschen können wir viel lernen.

Was würden Sie sich wünschen, falls Sie selber einmal pflegebedürftig werden sollten oder eine Reha machen müssten?

Ich würde mir wünschen, dass man meine Sorgen ernst nimmt, freundlich und liebevoll mit mir umgeht, verständlich und offen kommuniziert und meine Grenzen respektiert. Dies versuche ich im Alltag bei meinen Patienten vorzuleben gemäss dem Motto: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.»

Matthias Bruelisauer

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