Sterben müssen, können, dürfen oder wollen?

0 Shares

Heinz Rüegger ist freischaffender Theologe, Ethiker und Gerontologe. Am Montagnachmittag, 11. November, ist er in Teufen zu Gast bei der Pro Senectute Appenzell Ausserrhoden. In einem Referat wird er sich damit beschäftigen, wie ein lebensfreundlicher Umgang mit der eigenen Endlichkeit möglich ist. Der Vortrag trägt den provokanten Titel: «Sterben ist gesund». Ein Slogan, der zum Nachdenken anregt. Das p.s.-Magazin hat mit Heinz Rüegger gesprochen.

«Sterben ist gesund» ist ein Zitat aus einem internationalen Expertenbericht, der in der Fachzeitschrift «The Lancet» erschienen ist. Sie greifen Erkenntnisse daraus in Ihrem Referat auf. Das Schlagwort weckt den Eindruck, der Tod sei mit Krankheit verknüpft. Kränkelt nicht eher unser Bezug zum Sterben?

Natürlich führen meist bestimmte medizinische Krankheiten zum Tod. Das heisst aber noch lange nicht, dass Sterben an und für sich etwas Krankhaftes, etwas Pathologisches sei. Im Bericht einer internationalen Expertenkommission wird festgehalten: Sterben ist gesund, ist nicht nur natürlich, sondern hat seinen eigenen Wert. Das geht ganz gegen unser übliches Empfinden. Aber ich glaube, der Bericht weist auf etwas Wesentliches hin. Wir sollten den Tod, das Sterben nicht pathologisieren, als etwas, das man bis zuletzt bekämpfen und verhindern muss. Menschliches Leben ist nun einmal sterblich. Der Philosoph Martin Heidegger sagte, echtes, intensives menschliches Leben sei letztlich immer ein «Sein zum Tode». Damit sollten wir umgehen lernen. Das könnte uns wohl helfen, nicht nur getroster zu sterben, sondern auch vor dem Tod schon tiefgründiger, dankbarer zu Leben.

Welche Kultur pflegt aus Ihrer Sicht den besten Umgang mit dem Tod?

Eine Kultur, die das Sterben im Alter nicht verdrängt und nicht einfach bekämpft, sondern es zulässt und den Sterbeprozess palliativ möglichst gut begleitet.

Wie erreichen wir als Gesellschaft einen offeneren Zugang zum Thema Tod?

Indem wir darüber reden und nachdenken und in der Medizin darauf verzichten, im Alter bei jeder Krankheit automatisch auf Lebensverlängerung zu machen. Patientinnen und Patienten sollten offen auch darüber aufgeklärt werden, wie man an was für Krankheiten unter Umständen friedlich sterben könnte. Die letzte Entscheidung liegt immer bei den Patientinnen und Patienten.

Den Tod ins Leben zurückbringen, ist eines der Anliegen des erwähnten Expertenberichts. Worin liegen der Sinn und Wert des Sterbens?

Das Wissen um unsere Endlichkeit kann uns bescheiden machen: Es geht auch ohne uns, wir sind nicht so wahnsinnig wichtig, dass wir möglichst lange am Leben bleiben müssten. Wenn wir im Alter sterben, machen wir auf dieser Erde Platz für die Jüngeren, überlassen ihnen die Bühne der Lebensgestaltung – das ist sinnvoll und hilfreich. Und wer weiss, dass er oder sie sterben muss, lebt die verbleibende begrenzte Zeit intensiver, kostet sie bewusster und dankbarer aus. Darum gibt die Zürcher Psychologieprofessorin Verena Kast zu bedenken: «Je akzeptierender wir den Tod in das eigene Leben einbauen, desto lebendiger vermögen wir das Leben zu leben.»

Wie lässt sich das Sterben lebensfreundlich gestalten?

Durch eine Haltung, die wie der genannte Bericht Sterben als etwas Sinnvolles, zum Menschsein Gehörendes akzeptiert; durch ein soziales Umfeld, das Sterbende nicht alleine lässt, sondern empathisch begleitet; durch eine gute palliative Linderung von belastenden Schmerzen und anderen Symptomen im Sterbeprozess.

Wer hat aus Ihrer Erfahrung üblicherweise mehr Mühe mit dem Tod, die Angehörigen oder der Sterbende?

Das kann man nicht generell sagen. Die Hauptherausforderung liegt natürlich beim Sterbenden selbst. Aber manche Angehörigen, die den Tod verdrängen, tun sich schwer, ein sterbendes Familienmitglied gehen zu lassen.

Was halten Sie von Freitod?

Assistierter Suizid ist eine unter verschiedenen möglichen Formen selbstbestimmten Sterbens. Selber darüber bestimmen, wann wir wie sterben wollen, müssen wir heute in der Mehrzahl der Fälle ohnehin. Denn man stirbt heute nicht mehr einfach so. Man muss heute meist entscheiden, dass man das Sterben auf die eine oder andere Weise zulassen will. Insofern halte ich die Form des assistierten Suizids moralisch-ethisch genauso legitim wie andere Entscheidungen, z.B. die Entscheidung, auf weitere lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten.

Wer soll die Leitplanken für selbstbestimmtes Sterben setzen?

Selbstbestimmtes Sterben ist heute der Normalfall des Sterbens geworden. In rund zwei Dritteln der medizinisch begleiteten Sterbefälle in der Schweiz wird erst gestorben, wenn entsprechend entschieden worden ist – meist geht es um Verzicht auf lebenserhaltende medizinische Massnahmen. Und die Entscheidung liegt beim Sterbewilligen – oder dem Noch-nicht-Sterbewilligen –, nicht bei der Ärztin oder dem Arzt.

Zwischen Lebensverlängerung und Zulassen des Sterbens liegt ein schmaler Grat: Ab welchem Punkt ist der Kampf – insbesondere der medizinische – gegen den Tod nicht mehr gerechtfertigt?

Wenn die Patientin entscheidet, jetzt wolle sie das Sterben zulassen. Dann darf keine weitere lebensverlängernde medizinische Therapie mehr erfolgen. Oder wenn rein medizinisch gesehen gar nichts mehr zu machen ist und jede Intervention erfolglos wäre. Man sagt dann, dass weitere medizinische Massnahmen nicht mehr «indiziert» sind.

Wir leben so, als wären wir unsterblich. Warum verdrängen wir die eigene Endlichkeit so erfolgreich?

In der menschlichen Evolutionsgeschichte war der instinktive Kampf gegen den Tod wohl sinnvoll, um das eh schon sehr kurze Leben möglichst lange zu erhalten. Heute, da wir im Normalfall sehr alt werden, ist eine solche Verdrängungsstrategie eher dysfunktional: Wir sollten heute eher lernen, uns mit unserer Sterblichkeit anzufreunden und das Sterben rechtzeitig zuzulassen.

Wie kann ich meinem Ende mit mehr Gelassenheit begegnen?

Indem ich so lebe, dass ich lebenssatt werde, meinen Lebenshunger stillen kann und dann lerne, was im Leben ohnehin zu lernen hilfreich wäre: Dass irgendeinmal genug ist, dass es nicht immer noch mehr sein muss!

Wie gehen Sie mit dem eigenen Tod um?

Möglichst offen und unverkrampft im Wissen darum, dass Sterben zum Menschsein gehört, so gesehen «gesund» ist. Und indem ich das Leben dankbar auskoste und zugleich die Bescheidenheit einübe: Es geht auch ohne mich; es ist keine Katastrophe, wenn ich sterbe und es mich nicht mehr gibt.

Und zum Schluss: Warum darf der Mensch niemals unsterblich werden?

Weil nichts in dieser Welt unendlich ist. Alles ist begrenzt. Warum sollten wir Menschen es nicht sein?

(Das Interview führte Matthias Brülisauer)

Matthias Bruelisauer

Jetzt Beitrag teilen: