Der Computer kann nicht denken

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Willi Rohner übersetzt alte Texte in die heutige Schrift. Er erzählt von seiner Arbeit und erklärt, weshalb die Köpfe älterer Menschen der künstlichen Intelligenz noch lange überlegen sind.

Künstliche Intelligenz, kurz KI, ist heute in aller Munde und wird in zahllosen Lebensbereichen eingesetzt – oft ohne, dass es wahrgenommen wird. Auch das Staatsarchiv St.Gallen liess unlängst alte Regierungsratsprotokolle von einer automatischen Texterkennung «lesen» und in die heutige Schrift übersetzen. Wird der Mensch bald überflüssig? Heidi Eisenhut, die Leiterin der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, verneint ganz klar. Sie setzt beim Lesen alter Schriftstücke auf Menschen mit langer Lebenserfahrung und Interesse an Geschichte. Denn das Hirn ist dem Computer noch immer mehr als nur einen Schritt voraus. Einer der Senioren, die alte Schriften lautgetreu in die heute gebräuchlichen lateinischen Lettern übertragen – beziehungsweise transkribiert, so der Fachbegriff – ist Willi Rohner.

Nicht alles in der Schule gelernt

«Oftmals sind es ehemalige Lehrer, die transkribieren», sagt Rohner beim Gespräch in seinem Arbeitszimmer in Rehetobel. Auch er war ursprünglich Sekundarlehrer. Und obwohl er sich stets für Naturwissenschaften begeistern konnte, hängte er als weitere Ausbildung ein Jurastudium an. Sein Arbeitsleben liest sich eindrücklich, es weist Stationen in der Ausserrhoder Bauverwaltung, als Staatsanwalt und im Obergericht auf. Zudem ist er zehn Jahre über die Pension hinaus als Anwalt tägig geblieben.

Mit zunehmendem Alter habe er sich immer mehr für Geschichte zu interessieren begonnen, erzählt der 1943er-Jahrgang. Und sagt weiter: «Wenn man die Vergangenheit nicht kennt, hat man Mühe, die Gegenwart zu verstehen». Vor ungefähr vier Jahren hat ihn seine Wissbegierde mit der Ausserrhoder Kantonsbibliothek zusammengeführt. Diese suchte Leute, welche die deutsche Kurrentschrift, die im Übergang vom 17. in das 18. Jahrhundert entstanden ist und aus der Anfang des 20. Jahrhunderts die sogenannte Sütterlinschrift hervorging, lesen können. Dieser Stil war zur damaligen Zeit im ganzen deutschsprachigen Raum gebräuchlich. Bemerkenswert ist, dass Rohner sein Wissen rund um diese Schriften weder in der Schule noch an einer Universität erworben hat – seine Lehrmeister waren die Grosseltern, für die solche Zeichen noch Alltag waren.

In die Vergangenheit eintauchen

«Mich interessieren Briefwechsel. In ihnen wird hervorragend die jeweilige Zeit und das ganz gewöhnliche Leben dokumentiert. Das bringt mich oft zum Staunen. Für mich sind die Schriftstücke reich an Aha-Erlebnissen. Man ist plötzlich in der Geschichte der einfachen Leute mittendrin und erhält spannende Einblicke, was die Leute damals bewegte und was sie fühlten», beschreibt Rohner seine Motivation. Mit Briefwechseln hätten sich die Menschen früher ein ganz dichtes Kommunikationsnetz geschaffen, das recht gut funktioniert habe, weiss Rohner zu berichten. Diesen Austausch einer Leserschaft aus der Gegenwart zugänglich zu machen, ist nun seine Aufgabe. Dazu bekommt er von der Kantonsbibliothek digitale Aufnahmen der Schriftstücke und genaue Anweisungen. Dass man trotzdem zwischendurch zur Lupe greifen muss, lässt sich dennoch nicht vermeiden. Denn als Gegenkontrolle liest Rohner die Texte nach der Erfassung am Computer auf Papier ein zweites Mal durch. «Genau übersetzen heisst auch, die Fehler zu transkribieren», erklärt er und sagt weiter: «Es ist nicht die Idee, dass wir die Rechtschreibung korrigieren – der Text muss authentisch bleiben.»

Altes Wissen schlägt neue Technik

«Lesen ist ein geistiger Prozess», betont der Rentner. Künstliche Intelligenz stösst deshalb in diesem Bereich der Sprachwissenschaft an ihre Grenzen. «Ein Algorithmus kann keine fantasievollen Schlüsse einbringen. Computer filtern nur nach vorgegebenen Regeln. Ergänzungen und Präzisierungen schafft KI nicht», beschreibt Rohner einen Teil des Problems. Doch als grösste Herausforderung beim Lesen alter Schriftstücke sieht er die Individualität einer Handschrift und die sehr schwankende Qualität der Schriftbilder. «Nicht selten sind die Schriftbilder schlecht. Dem Übersetzer bleibt nur zu erahnen, was der Autor ausdrücken will», sagt Rohner und erinnert sich an einen besonders denkwürdigen Auftrag: «Einmal habe ich mich über eine furchtbar zittrige Handschrift gebeugt. Am Schluss des Briefes hat sich der Schreiber sogar dafür entschuldigt, mit der Erklärung, er habe jämmerlich gefroren.» Diese Erfahrungen lassen Rohner die Frage in den Raum stellen, ob sich der Aufwand lohnt, um eine automatische Texterkennung auf diverse Schriften und Verfasser zu trainieren. Ein Mensch wird sich wohl immer besser mit einem anderen Menschen verständigen können als ein Computer – und selbst dann ist die Kommunikation ja schon vertrackt genug.

Das flüchtige Alltagsleben

Mit grösster Wahrscheinlichkeit wird sich die Künstliche Intelligenz überdies wohl nie mit persönlicher Korrespondenz von Willi Rohner beschäftigen müssen, wie er nachdenklich feststellt. Denn Briefwechsel unterhält der Rehetobler nicht. Die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist ihm wichtiger. Eine Einstellung, die wohl die meisten teilen. Doch wie wird das Alltagsleben im 21. Jahrhundert für die Nachwelt festgehalten, wenn es nicht dokumentiert wird? Droht das ganz gewöhnliche Leben in Vergessenheit zu geraten? «Und ist das überhaupt dereinst wichtig?», fragt Rohner mit Blick in die Zukunft und findet eine Antwort in der Vergangenheit, indem er für seine Familie Ahnenforschung betreibt: «Denn es ist zumindest wichtig zu wissen, woher man kommt.»

Matthias Bruelisauer

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